Der Koalitionsvertrag der Regierung Merz/Klingbeil führt im Bereich der Sozialpolitik aus:
Die Komplexität von Zuständigkeiten und Schnittstellen in unserem Sozialstaat erfordert jedoch eine grundsätzliche Betrachtung und Reform.
Mehr als 150 Leistungen des Bundes, die auf direkter oder indirekter Weise durch den Staat gewährt werden, sollen der Sozialstaatsgarantie gerecht werden. Nicht nur potentielle Anspruchsberechtige haben hier längst den Überblick verloren. Auch die zahlreichen zuständigen Behörden kennen die Sozialleistungen nur unzureichend. Und auch die Bescheide der Behörden sind nicht mehr nachvollziehbar. Selbst die Mitarbeitenden der Sozialbehörden haben Mühe, die Bescheide zu verstehen, die sie eigentlich erstellen.
Neue Sozialleistungen ohne Prüfung
Die Debatte ist meist relativ einfach: Die Politik fordert eine neue Sozialleistung, ohne zu prüfen, ob die beabsichtigte Wirkung entweder bereits durch eine andere Sozialleistung abgedeckt wird, diese ergänzt wird oder gar eine Sozialleistung widerspricht. Dies zeigte sich exemplarisch in der Kindergrundsicherung, wie sie in der vergangenen Legislaturperiode diskutiert wurde: zwar fasste sie für Kinder unterschiedliche Leistungen zusammen. Sie hätte jedoch gerade im Familienverbund zu erheblichen Problemen geführt, was die Zurechnungsvorschriften für die übrigen Mitglieder betrifft.
Obwohl im Vorfeld eine Arbeitsgruppe aus sechs Bundesressorts die Überlegungen zur Ausgestaltung geprüft hatte, bestanden weiterhin im Zuschnitt der Kindergrundsicherung Herausforderungen, die in der schieren Masse der Sozialleistungen begründet liegen. Betrachtet die Regierung die Schnittstellen, so muss das zentrale Ziel sein, diese Schnittstellen zwischen den Sozialleistungen nicht nur zu verringern, sondern die Sozialleistungslandschaft grundsätzlich neu aufzustellen. Dabei ist es zunächst ausreichend, lediglich die Leistungen des Bundes zu betrachten. Sie stellen den grössten Teil dar und sie sichern die Lebensgrundlagen von Menschen in herausfordernden Lebenssituationen.
Ziel muss es sein, die Leistungslandschaft deutlich zu verschlanken und dafür den Behörden ihren Entscheidungen mehr Spielraum zu geben. Eine zentrale Voraussetzung ist dabei jedoch, die Zielrichtung durch den Gesetzgeber zu definieren. Mit der einsetzenden Debatte um das Bürgergeld wäre dies bereits jetzt möglich: Soll das Bürgergeld ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, so braucht es kaum Arbeitsanreize. Soll jedoch das Zeil sein, Menschen in ein eigenverantwortliches Leben zurückzubegleiten, brauchen Behörden Spielräume, um individuell auf den oder die Einzelne eingehen zu können. Hier hilft ein Blick ins Ausland: der „Human Development Fund“ in Saudi Arabien beispielsweise fördert die Integration von Menschen mit Handicaps in das Berufsleben. Wie diese geschieht, ist so individuell wie die Menschen selbst und deshalb wird die Rückkehr in den Beruf sowohl für Arbeitnehmende wie Arbeitgeber individuell gestaltet.
110 Behörden begegnen dem Bürger
Die Vielfalt der Sozialleistungen setzt sich auf der Behördenebene fort. Denn der Bund hat für nahezu jede Leistung eine eigene Behörde geschaffen – mit der Folge hoher bürokratischer Lasten, aufwendiger Abstimmungen zwischen den Behörden und entsprechende Behördenkontakte auf Seiten der Hilfesuchenden.
Und obwohl der Gesetzgeber bereits heute die Möglichkeit gibt, Anträge weiterzuleiten und eine Annahmeverpflichtung auch der Polizeiinspektion um die Ecke vorschreibt, nehme die Behörden dies nicht wahr. Behörden sind meist nicht einmal bereit, andere Ansprüche zu identifizieren. Bürger bleiben damit auf sich alleine gestellt und meist sind diejenigen auf entsprechende Leistungen angewiesen, die nur wenig mit dem Behördendschungel vertraut sind. Behörden prüfen lediglich dann andere Ansprüche, wenn diese anrechnungspflichtig sind und die eigene Leistungsverpflichtung reduziert.
Dabei geht dies auch anders. In der Studie zur Komplexität des Sozialstaates wurde nachgewiesen, dass beispielsweise Australien eine Behörde damit beauftragt hat, Sozialleistungen ressortübergreifend zu verwalten und auszuzahlen. Damit einher geht, dass eine Beratung der Anspruchstellenden erfolgt, welche Leistung am Besten ist und somit die Zielrichtung der durch den Gesetzgeber definierten Leistung am ehesten erreicht wird. Das System wird damit nicht nur zielgerichteter, sondern auch entbürokratisiert – und gleichzeitig Betrug bekämpft. Dies zeigt auch die britische Behörde Universal Credits, auch wenn sie lediglich sechs Sozialleistungen zusammenfasst: Die Betrugsrate ging spürbar zurück, weil nicht nur die Bürokratieaufwände sinken, sondern auch die Möglichkeit der gegenseitigen Ausspielung.
Datenmanagement
Hier spielt jedoch auch die Möglichkeit eines behördenübergreifenden Datenmanagements eine zentrale Rolle. Obwohl das once only-Prinzip eine zentrale Aussage der Politik ist, erhebt bis heute jede Behörde separat Daten zum Einkommen oder den Wohnungsausgaben. Zwar werden teilweise Daten beim Bundeszentralamt für Steuern beispeilsweise abgerufen. Aber dies erfolgt weder automatisiert noch standardisiert. Bereits hier würde jedoch das Datenmanagement einsetzen: Einkommensdaten können bei Lohnbeziehern weitgehend über die beim Bundeszentralamt vorgehaltenen Daten abgerufen werden. Damit wären sie auch bereits validiert und bräuchten durch die Sozialbehörden nicht mehr umfangreich geprüft werden.
Mit einem integrierten Datenmanagement könnten, wie in der Studie gezeigt wurde, auch voll automatisiert teilweise Leistungen ausgezahlt werden, die keine Einkommensprüfung beispielsweise unterliegen oder deren Prüfung auf sehr wenigen Parametern beruht. Hier könnten zwar noch die engen gesetzlichen Grenzen der automatisierten Verwaltungsakte im Wege stehen. Aber dieses Problem ließe sich wohl rasch lösen.
Einem einheitlichen Datenmanagement steht derzeit aber nicht nur die Behörden- und Lösungsvielfalt entgegen, sondern vielfach auch der Datenschutz. Es besteht jedoch der Verdacht, dass dies eher ein Vorwand ist, Daten zu teilen, als dass ein realer Grund ist.
Fazit. Grosse, aber machbare Anstrengung
Will die Koalition ihr Vorhaben umsetzen, dann ist dies ein grosser Kraftakt. Der erste Schritt wäre eine grundsätzliche Kritik der Sozialleistungen und die Einigung darauf, Leistungen abzuschaffen. Dies muss nicht für Leistungsempfänger nicht mit einer Kürzung der Leistungen verbunden sein, aber auf allen Seiten mit einer Reduzierung der Bürokratie – und wohl auch, Grossbritannien zeigt dies, mit einer Reduzierung von Betrugsanreizen. Ein Blick ins Ausland wäre hier hilfreich.